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Sulina – Der langsame Verfall der Europolis

von Patrick Schmitt, Universität Tübingen

Sucht man heute nach der im Donaudelta gelegenen rumänischen Stadt Sulina, so tauchen zahlreiche Angebote von Reiseführern auf, die einem die „vergessene Metropole“ schmackhaft machen wollen. Ruhe, weite Grünflächen und ein kilometerlanger Sandstrand tragen zur Idylle und zum Charme der Stadt bei. Dabei konnte von Ruhe in Sulina lange Zeit nicht die Rede sein. Schließlich erwiesen sich Sulina und der Hafen der kleinen Stadt "als Drehscheibe des Donauverkehrs und der Handelsbeziehungen zwischen dem Abendland und dem Orient"[1]. Sulina war die wichtigste Stadt im Donaudelta, dem zweitgrößten Flussdelta Europas, und verband Donau und Schwarzes Meer. Doch wie erklärt sich der Bedeutungsverlust dieser Kleinstadt, die bis heute nicht an das rumänische Straßennetz angeschlossen ist und weiterhin nur mit dem Boot zu erreichen ist?

Sulina war im Laufe der Geschichte mit zahlreichen Herrschaftswechseln konfrontiert. 1829 vom Russischen Kaiserreich annektiert, stand die Stadt im Donaudelta als Folge des Krimkrieges unter der Schirmherrschaft der Österreicher (1855) und der Osmanen (1857). 1878 gelangte Sulina schließlich in den Herrschaftsbereich Rumäniens, in dessen Territoriums es sich bis heute befindet.

Im 19. Jahrhundert gewann Sulina als strategischer Standort an Bedeutung. Bereits unter russischer Herrschaft kam dem Hafen Sulinas eine zentrale Rolle zu, da große Segelschiffe nicht die Häfen in Galați und Brăila, welche sich weiter im Landesinneren befanden, erreichen konnten. So diente Sulina als Anlegeort, um Güter und Waren zu verladen. Die Bedeutung der Stadt wuchs ab 1856 stetig, nachdem die Europäische Donaukommission zur Regulierung der Schifffahrt auf der Donau gegründet wurde und Sulina im Anschluss zu deren Sitz avancierte. Der Hafen wurde 1870 zur Freihandelszone erklärt, was seine Attraktivität für europäische Unternehmen steigerte. Vor allem der Export und Import von Lebensmitteln, allen voran Korn, lief über den Hafen Sulinas, in welchem nun große Dampfschiffe aus dem Schwarzen Meer anlegten. Die Kommission investierte dabei in groß angelegte Projekte, die technische Verbesserungen im Hafen hervorrufen sollten. Hierzu gehörte beispielsweise die Regulierung und Vertiefung von Kanälen, die dazu führte, dass größere maritime Schiffe in Sulina anlegen konnten. Gleichzeitig resultierte die Präsenz der Kommission auch im Ausbau der städtischen Infrastruktur. Verwaltungsgebäude, ein Krankenhaus und mehrere Wohngebäude für die zahlreichen Arbeiter der Kommission verliehen der Hafenstadt nun einen urbanen Charakter.[2] Den rasanten Aufstieg Sulinas verdeutlichte auch die demografische Entwicklung der Stadt: von 1755 Einwohnern im Jahre 1856 stieg die Anzahl der permanenten Bewohner bis zu Beginn des Ersten Weltkrieges auf etwa 7000. Diese waren multinational zusammengesetzt. So lebten hier u.a. Rumänen, Türken, Griechen, Russen, Armenier und Deutsche miteinander und prägten den internationalen Charakter der Stadt.[3]

Der Erste Weltkrieg beendete zwar nicht die Tätigkeit der Donaukommission, jedoch konnte das Vorkriegsniveau des Handels im Hafen Sulinas nicht mehr erreicht werden. So richteten Serbien und Bulgarien ihr Getreideangebot donauaufwärts an Deutschland. Darüber hinaus traten neue Konkurrenten auf dem europäischen Markt auf, was zur Verschlechterung der Wirtschaftslage des Hafens an der Donaumündung führte. Die Wirtschaftskrise der 1930er Jahre brachte die Kommission schließlich dazu, den Hafen Sulinas zu verlassen. Nach dem Zweiten Weltkrieg, im Laufe dessen die Stadt starke Zerstörungen hinnehmen musste, intensivierte sich der Abstieg Sulinas. Die Kommission verlegte ihren Sitz zunächst nach Galați  und später nach Budapest. Städte wie Galați und Brăila förderte das sozialistische Rumänien in der Nachkriegszeit und der Hafen von Constanța erwies sich nun als der bedeutsamste rumänische Hafen am Schwarzen Meer.[4]

Auf den rasanten Aufstieg Sulinas folgte so der tiefe Absturz der Stadt, die allmählich in Vergessenheit geriet. Von der ehemaligen Blüte der Stadt ist heute kaum noch etwas zu sehen. Immer noch verlaufen in Sulina dieselben sechs Hauptstraßen, die bereits zur Zeit der Europäischen Donaukommission gebaut wurden. Nur noch knapp über 3100 Einwohner harren in der Stadt aus. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Rumänen und Lipowaner, die ethnische Diversität aus früherer Zeit scheint verflogen.[5]

Der Verfall Sulinas erscheint aus der Retrospektive nicht als Überraschung. Er war prädestiniert durch die enge Anbindung der Stadt an die Donaukommission und die Konzentration der eigenen Rolle auf den Hafen. Es entwickelten sich in Sulina keine Alternativen, die den Standort neben des Schifftransits attraktiv erscheinen ließen. Das Abwandern der Donaukommission und der Bedeutungsverlust des Hafens katapultierte die Stadt folglich wieder in die Vergangenheit, sodass Sulina heute wieder den Charakter eines Fischerdorfs aufweist.

Ob die Stadt im Donaudelta sich von diesem Abstieg erholen und vom Tourismus profitieren kann, ist trotz mehrerer Reiseführerempfehlungen fraglich. Zwar ist das Donaudelta rund um Sulina ein Naturparadies und reich an Tierarten. Der Stadt mangelt es zudem nicht an Geschichte, so sprechen die Leute heute noch vereinzelt von der „Europolis“, wie Jean Bart die Stadt einst taufte. Die Abgelegenheit und der damit verbundene Aufwand, Sulina zu erreichen, sowie mangelnde kulturelle Möglichkeiten sprechen jedoch gegen einen erneuten Aufstieg der Stadt. Und so drohen Sulina und der einst bedeutsame Hafen mehr und mehr in der Versenkung zu verschwinden.

[1] Pascu, Iulia: Ökologisch verträgliche Stadtentwicklung im Donaudelta? Das Beispiel Sulina, Tübingen 2004, S. 27.

[2] Vgl. Pascu: Ökologisch verträgliche Stadtentwicklung im Donaudelta? S. 29 f.

[3] Vgl. Ardeleanu, Constantin: The European Commission of the Danube, 1856 – 1948: An Experiment in International Administration, Leiden 2020, S. 291.

[4] Vgl. Pascu: Ökologisch verträgliche Stadtentwicklung im Donaudelta? S. 34 – 38.

[5] Vgl. Ardeleanu: The European Commission of the Danube, S. 306.

 

Literatur

Ardeleanu, Constantin: The European Commission of the Danube, 1856 – 1948: An Experiment in International Administration, Leiden 2020.

Pascu, Iulia: Ökologisch verträgliche Stadtentwicklung im Donaudelta? Das Beispiel Sulina, Tübingen 2004.